№8
Die Welt der Anna Depenbusch Juli 2019

Erzähl mir was!

Über Frau Rachals und den richtigen Moment zum Abtreten

Damit es keine Missverständnisse gibt: Frau Rachals ist mein Flügel. Der heißt so, weil Rachals in matten Goldbuchstaben über der Klaviertastatur steht. Diese Hamburger Pianofortemanufaktur baute den Flügel vor einem knappen Jahrhundert. Die Firma gibt es nun schon lange nicht mehr. Meine Frau Rachals schon.

Entdeckt habe ich sie bei einem Trödelhändler im hintersten Eck einer Lagerhalle. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dieses Instrument hat Charakter. Und es hat eindeutig nicht nur rosige Zeiten miterlebt. Der Lack war ab – im wahrsten Sinne des Wortes. Frau Rachals machte auf mich aber einen zähen, liederhungrigen Eindruck und hat damit mein neugieriges Herz erobert. Ich nahm sie mit. Einige Jahre ist das nun her.

Hundert Jahre klingen in Frau Rachals nach. Oft erzählt sie mir was aus alten Tagen. Von den Goldenen 20er Jahren zum Beispiel, wo sie als junges Salonflügelmädchen in einem Revuetheater auf dem Spielbudenplatz gespielt wurde. Zwischen Frau Rachals Zähnen, äh Tasten, klebt noch Champagner, der im Sturm und Drang über ihr vergossen wurde. (Einmal, so behauptet sie stur, hätte der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli auf ihr gestanden und gesteppt – mit einer Burlesquetänzerin auf seinen Schultern! Hm, ob ich das glauben kann?) Von den 30er und 40er Jahren damals in Hamburg erzählt Frau Rachals kaum. Sie wirkt auf mich sofort unendlich müde, wenn ich sie danach frage. Im letzten Sommer wurde sie dann allmählich stiller und stiller. Immer verstimmter und verstimmter. Dann plötzlich, verstummte sie ganz.

Was sollte ich nun tun? Ich brauchte ein Instrument für die Arbeit, für Konzertvorbereitungen und natürlich zum Komponieren für das neue Album. Sollte ich Frau Rachals entsorgen und durch einen neuen Flügel von der Stange ersetzen? Einen schicken Flügelflitzer mit butterweicher Mechanik, der sich quasi wie von alleine spielt? Eine reizvolle Vorstellung. Mal etwas sportliche Geschmeidigkeit nach der Arthrosetastatur? Aber was mache ich, wenn da dann keine Geschichten drin sind? Weil der Flügelflitzer ja noch überhaupt nichts Eigenes erlebt hat. Das wäre fatal! Nein – Frau Rachals brauchte mehr Zeit. Sie war noch nicht fertig mit Geschichten erzählen...

Sechs Monate dauerte die Komplettrestauration. Ein erfahrener Klavierbaumeister hatte die Herausforderung angenommen. Er meinte, ich dürfe aber nicht zu viel erwarten. Das Instrument wäre ein kleiner no-name Salonflügel mit wenig Klangpotenzial. Für mich sind die unerzählten Geschichten im Inneren des Instruments von unschätzbarem Wert. Deshalb sollte bitte nur ausgetauscht werden, was unbedingt nötig wäre. Jedes einzelne Teil sollte der Fachmann begutachten und alles, was sich restaurieren oder reparieren ließe, im Originalzustand erhalten. Ein halbes Jahr lang Operation am offenen Flügelherz mit musikalischem Multiorganversagen. Aber wie gesagt, Frau Rachals ist zäh und liederhungrig. Der Klavierbaumeister hat es geschafft. Frau Rachals ist wieder da! Sie ist wach, topfit und hat viel zu erzählen. Der kreative Arbeitsalltag hat uns beide zurück.

Letzte Woche war ein Journalist, der meinen Weg schon viele Jahre begleitet, bei mir im Studio. Wir führten ein langes Interviewgespräch, und es ging inhaltlich etwas unter die Oberfläche. Wir sprachen über Sorgen, Ängste, Wünsche, Ziele. Tieftaucherthemen halt. Etwas unvermittelt fragte er mich, ob ich Angst hätte, den richtigen Augenblick zu verpassen. Ich wusste nicht genau, was er damit meint. Er meinte den richtigen Augenblick, um die Bühne für Newcomer freizumachen – den Staffelstab des Showgeschäfts weiterzureichen. Er findet es so trist, wenn Künstler den Moment verpassen, würdevoll aus dem Scheinwerferlicht zu treten. Ich musste laut lachen und habe ihm dann die Geschichte von meinem neuen, alten Flügel erzählt. Beim Liedermachen gibt es nun mal kein jung-älter-zu alt!

Vorhin habe ich Frau Rachals von dieser Interviewfrage erzählt. Ich wollte wissen, was sie darüber denkt. Sie hat ein bisschen gekichert, mit ihren Tasten geklimpert und mir zugeflüstert: „Fräulein Depenbusch braucht wohl mehr Zeit. Sie ist noch nicht fertig mit Geschichten erzählen...“

Stimmt.

Nächste Folge: 2. August 2019
"Die Welt der Anna Depenbusch" Kolumne erscheint immer am ersten Freitag des Monats.

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